Dienstag, 28. Oktober 2008

„Vilnius in my head”- Eindrücke und Erlebnisse aus 7 Wochen Litauen

ein Bericht von Carina Reichard

Wo liegt Litauen? Irgendwo weit im Osten gleich neben Weißrussland, aber das kennt eigentlich auch niemand so genau und wenn, dann nur vage aus den Schlagzeilen. Üblicherweise liegt es im Trend, als Au-Pair in die USA zu gehen oder vielleicht in England oder Frankreich zu arbeiten. Doch wo liegt die besondere Herausforderung?

Als ich mich für EVS und das Projekt in Vilnius beworben habe, wusste ich auch nicht viel mehr über das Land als den Namen der Hauptstadt. Ich hatte keine großen Erwartungen und ließ das Ganze einfach auf mich zukommen. Selbst vor unseren On-Arrival Training ca. 50 km außerhalb von Vilnius zwei Tage nach unserer Anreise war ich nicht besonders begeistert von meiner Situation und den Leuten hier. Daher würde ich sagen, dass diese drei Tage Kennenlernen in einer Blockhütte „in the middle of nowhere“ meine Einstellung zum Team und zum Projekt an sich wirklich ins Positive verkehrt haben. Am Anfang ist immer etwas schwierig, mit neuen Situationen klarzukommen, ich hatte auch bestimmt einige Vorurteile, die sich im Nachhinein nicht bestätigt haben.

Nach mittlerweile 7 Wochen hier in Vinius sehe ich Vieles anders als vorher und bin froh, die Entscheidung hierher zu kommen getroffen zu haben.

Projekt: Zuerst einmal möchte ich erzählen, was genau wir hier tun und warum wir hier für Monate lang arbeiten:

Nächstes Jahr wird sich nicht nur Linz als Kulturhauptstadt Europas präsentieren, sondern auch Vilnius; eine Wahl, die sehr wohl bewusst getroffen worden ist. Zum ersten Mal erhalten je eine west- und eine osteuropäische Stadt gemeinsam den Titel „Kulturhauptstadt“, ein Trend, der in den nächsten Jahren fortgesetzt wird. Anders als die meisten anderen EVS Freiwilligen in Europa ist ein Großteil von uns nur für 2 Monate hier, um die Idee der Kulturhauptstadt und Vilnius als europäische Metropole generell im In- und Ausland zu promoten. Wir arbeiten an verschiedensten Projekten wie zum Beispiel an einem Film, E-Cards usw. und halten uns die meiste Zeit im Büro der Kulturhauptstadt, dem VEKS Office auf.

Auf die Frage hin, ob wir bereits heuer viel vom Programm des nächsten Jahres mitbekommen: Ich kann als Beispiel das Festival „Art in Unusual Places“ anführen, bei dem wir Ende September als Freiwillige mitarbeiten konnten. Die zentrale Idee dahinter ist, dass jeder ein Künstler sein kann und im Rahmen dieses Events auch die Möglichkeit dazu erhält. Weitere Informationen über das Festival findet ihr in einem Extrabeitrag über das Programm nächstes Jahr. Jedenfalls wollte ich anmerken, dass dieser Event letztes Jahr zum ersten Mal stattgefunden hat, dieses Jahr quasi seine Generalprobe feierte und 2009 auf eine Woche ausgedehnt wird. Das zeigt, dass sich Vilnius sehr wohl auf die Kulturhauptstadt vorbereitet, indem bereits jetzt schon verschiedenste Ideen ausprobiert werden.


Team: Wer sind wir? Unser Team besteht aus je zwei Freiwilligen aus Italien, zwei aus der Slowakei, drei aus Frankreich, einem aus Portugal, einer aus Griechenland und natürlich uns aus Österreich. Dadurch wird die interkulturelle Komponente noch weiter verstärkt, ein Vorteil für VEKS, denn jeder von uns kann Vilnius individuell in seinem/ihrem Herkunftsland auf die eine oder andere Weise bekannt machen. Einige arbeiten an Blogs, andere schreiben Artikel für ausländische Zeitungen oder entwerfen Designs für Postkarten; unserer Phantasie und Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.

Es ist nicht immer leicht, im Team zusammenzuarbeiten, denn nicht jeder hat einen Computer zur Verfügung oder besitzt dieselben technischen Fähigkeiten. Manchmal scheint alles etwas unstrukturiert und chaotisch, aber auch das ist Teil unseres Entwicklungsprozesses durch EVS, dass wir lernen, als Gruppe zu „funktionieren“.

Grundsätzlich gibt jedoch es keine gröberen Differenzen; natürlich kann nicht jeder zum besten Freund werden, dennoch glaube ich, dass ich hier sehr viele interessante Leute kennengelernt habe,mit denen ich zuhause in Österreich weiter in Kontakt bleiben möchte und hoffentlich werde.

Unterkunft: Abseits der Arbeit leben Anna und ich mit fünf anderen Mädchen in einer Kellerwohnung im Stadtzentrum. Unsere Zimmer sind wirklich in Ordnung, das Einzige, was uns am Anfang wirklich fehlte, war ein Kühlschrank und ein Herd. Manche hatten damit ein großes Problem und betrachteten es als unüberwindbares Hindernis, für zwei Monate ohne auskommen. Ich war nicht gerade erfreut, kann mich jedoch problemlos mit neuen Gegenbenheiten, sofern sie halbwegs erträglich sind, arrangieren.

Aber auch dieses Problem ließ sich zumindest teilweise lösen. Als EVS Freiwillige(r) ist es oft sehr einfach, mit Gleichgesinnten (also z.B anderen EVSlern) in Kontakt zu kommen. Durch eine österreichische Journalistin aus Vilnius, lernten wir einen Gedenkdiener aus NÖ kennen, in dessen Wohnung wir uns regelmäßig treffen, um zu kochen und Neuigkeiten auszutauschen. Natürlich ist es manchmal ungewohnt, ganz ohne Fernseher und in meinem Fall ohne Laptop zu leben, aber die Erfahrung, im Ausland zu arbeiten entschädigt für so manche Entbehrungen. Um auf die Frage von Armin zu antworten: ich würde ebenfalls gerne wissen, wie hier über Österreich und das Nationalteam berichtet wird, aber da ich aus sprachlichen Gründen keine Zeitungen kaufe, kann ich hier leider nicht weiterhelfen.


Sprache: Ich habe gelesen, dass Litauisch jene Sprache ist, die dem Sanskrit am nächsten kommt. Dementsprechend kompliziert ist es auch, die komplexe Grammatik der Landessprache zu erlernen. Anders als die beiden „Long Term“ Freiwilligen erhalten wir so gut wie keinen Sprachkurs, unser Vokabular beschränkt sich leider auf wenige Wörter wie zum Beispiel „ bitte“, „danke“, „hallo“ und „tschüs“. Da wir aber bereits in drei Wochen wieder abreisen und zuhause wenig Möglichkeit haben, Litauisch zu praktizieren, vestehe ich, warum uns ein Intensivsprachkurs vorenthalten wird.

Daher kommunizieren wir untereinander die ganze Zeit in Englisch, selbst oft mit meiner österreichischen Kollegin, da alles andere meist unhöflich den anderen gegenüber wäre. Die jungen Leute hier in Vilnius beherrschen Englisch genauso gut wie wir, in den Kinos werden aus Kostengründen ohnehin nur Filme in Originalfassung mit Untertitel gezeigt. Mit der älteren Bevölkerung kommt man abgesehen von der Landessprache nur mit Russischkenntnissen weiter. Da aber nur einer in unserer Gruppe dessen mächtig ist, kann es schon mal zu Missverständnissen, beispielsweise im Supermarkt kommen.

Essen: Ich denke, es besteht kein Zweifel daran, dass die litauische Küche nicht unbedingt zur leichten Kost gehört. Während unseres On-Arrival Trainings erhielten wir die Möglichkeit, regionale Spezialitäten auszuprobieren, die weniger fett als üblich zubereitet wurden und deshalb mehr oder weniger allen schmeckten. Abgesehen von diesen drei Tagen, in denen ich das Essen wirklich genossen habe, probiere ich eher wenig litauische Kost aus. Da Vilnius auch viele internationale Restaurants besitzt und einige von uns eher fettfreie Küche bevorzugen, war ich zum Beispiel zum ersten Mal in meinem Leben in einem japanischen Restaurant. Grundsätzlich ist es jedoch kein Ziel von mir, in Litauen die ganze Palette an asiatischer Kost auszuprobieren, ohne die landestypischen Spezialitäten zu kennen. Deshalb plane ich eventuell zum Abschluss meines Aufenthalts hier, noch das eine oder andere zu testen.

In den Supermärkten hier findet man auch so Einiges, was wir zuhause nicht haben, aber ich denke, dass man dafür von Österreich aus nur beispielsweise über die Grenze nach Tschechien fahren braucht, um dasselbe zu erleben. Mir fallen sehr viele Dinge ein, die ich in den Supermärkten nicht kaufen würde oder zumindest nicht kenne; zum Beispiel habe ich hier eine Art Gelee gesehen, in giftgrün und rot, von dem ich nicht sagen kann, ob es süß oder sauer ist......und ob ich es wirklich kaufen möchte.

Vilnius: Über Vilnius selbst lässt sich eine Menge erzählen. Generell habe ich den Eindruck, dass sich die Stadt nicht mit Wien oder einem anderen österreichischen oder zentraleuropäischen Ort vergleichen lässt. Aber genau das macht den besonderen Reiz hier aus. Letzte Woche reiste ich mit einigen anderen nach Riga, das sich um ein Vielfaches kosmopolitischer und touristischer präsentiert, als es hier der Fall ist. Dennoch hatte ich in der Altstadt von Riga oft das Gefühl, mich zwar in einer sehr schönen, aber nicht in einer einzigartigen Stadt zu befinden. Vilnius mag vielleicht keine perfekt angelegten Parks aufweisen; genau aus diesem Grund aber wirkt alles viel natürlicher und ursprünglicher. Für mich besitzen besonders die vielen versteckten Hinterhöfe einen ganz speziellen Charme, den ich noch nie zuvor wo entdecken konnte. Verlässt man die Straßen der Altstadt und betritt einen dieser Höfe, ist es nicht unwahrscheinlich sich plötzlich mitten am Land zu fühlen. Und das meine ich nicht im negativen Sinne, denn gerade in unseren Breiten ist eine Kombination von urbanem Flair und Landleben oft eine Idealvorstellung.






Um dem Ruf Kulturhauptstadt gerecht zu werden, bedarf es keiner langen Suche. Jede Woche wird im musikalischen und künstlerischen Bereich Vieles angeboten, das kreative Potenzial dieser Stadt und deren Bewohner ist kaum zu übersehen. Egal ob Kunstaustellungen, Jazzsessions oder ein Rockkonzert in einem der Hinterhöfe, im Prinzip ist immer etwas los. Das einzige Problem liegt in der oft mangelnden Information und unprofessionellen Kommunikation. Bei dem Festival „Art in Unusual Places“ konnten wir diese Defizite deutlich miterleben.

Nichts desto Trotz wird man jedoch gerade wegen der großen Palette an Möglichkeiten, immer wieder ganz zufällig auf die interessantesten Dinge stoßen. Besonders faszinierend finde ich zum Beispiel die sogenannte Künstlerrepublik Užupis, welche sich in einem ehemaligen Armenviertel nahe der Altstadt befindet. Heute gilt es mehr und mehr als eine attraktive Wohngegend, ganz einfach weil durch den kreativen Geist eine spezielle Atmosphäre geschaffen wird. Die Künstler von Užupis nennen sich unabhängig, was durch eine für alle Besucher sichtbare Verfassung in mehreren Sprachen manifestiert wird. Der zuvor angesprochene Charme ist hier noch deutlicher ausgeprägt.

Ich möchte aber in meinem Bericht keine falschen Illusionen wecken. Natürlich ist auch in Vilnius nicht alles Gold, was glänzt. Am anderen Ufer des Flusses Neris lässt sich der Kontrast zwischen Arm und Reich deutlich ausmachen. Unser Arbeitsplatz etwa liegt in einem modernen Bürogebäude gleich neben einigen Einkaufszentren. Auf den ersten Blick scheint dieses Viertel aufstrebend und dynamisch - kein Zweifel, das ist es auch. Dennoch braucht man nur ein paar Meter weiter in Richtung Markt zu blicken und findet sich in einer völlig anderen Welt wieder. Kleine armselige Holzhäuser dominieren die Gegend, die ansässigen Menschen können von einem Job in einem der glasverkleideten Gebäuden nur träumen. Dasselbe gilt für die Plattenbauten gleich in der Nähe des wohl größten Einkaufspalastes in Vilnius, der Akropolis. In der Nacht empfiehlt es sich weniger, diese Gegend aufzusuchen.

Dort wo wir wohnen, ist es weitaus sicherer als in den Randbezirken, trotzdem gilt es wie überall aufzupassen.

Gesellschaft: Trotz der für europäische Verhältnisse ungewöhnlich homogenen Bevölkerung (über 80% Litauer) ist das Russische nach wie vor in gewissen Bereichen (abseits der Architektur) sehr präsent. Mir fällt auf, dass vor allem in weniger attraktiven Jobs im Dienstleistungsbereich (Supermarkt, Bus, Kantine) viele Russischsprachige beschäftigt werden. Sie gehören meiner Meinung nach zu der ärmeren Schicht. Litauer haben verständlicherweise (lange Jahre als Teil der Sowjetunion) oft keine hohe Meinung von Russen und Polen, insbesondere wenn diese ihre eigenen Sprachinseln bilden und kein Interesse zeigen, die Landessprache zu lernen.

Auch über Litauer herrschen viele zum Teil zutreffende und nichtzutreffende Stereotypen. Zweifelsohne herrscht die Meinung, litauische Frauen würden ein Vielfaches mehr als Zentraleuropäerinnen in ihr Outfit und Auftreten investieren. Da die Männer in der Minderzahl sind, ist es für eine Frau wichtig, möglichst attraktiv zu wirken, um am Ende nicht „übrig zu bleiben“. Von dem her, was ich erlebe, hat diese Annahme sicher ihren wahren Kern, dennoch wäre es falsch, kollektiv alle Frauen in ein und denselben Topf zu werfen.

Am Anfang hatten wir sehr wenig Kontakt zu Einheimischen, höchstwahrscheinlich auch deshalb, weil wir immer abseits der anderen Büroangestellten beschäftigt waren und als großes Team vielleicht neue Freunde nicht so sehr nötig hatten,als jemand, der ganz allein hier ankommt. Mittlerweile fällt es mir aber nicht mehr schwer, mit Litauern in Kontakt zu kommen, besonders beim Fortgehen am Abend kommt man immer wieder mit den verschiedensten Leuten ins Gespräch. Dieser interkulturelle Austausch ermöglicht einen komplexeren Einblick in die litauische Gesellschaft und lässt mich erkennen, dass unser oft homogener Eindruck von Osteuropa auf keinen Fall zutrifft. Es regiert hier nicht nur das osteuropäische Klischee von Frauen in Miniröcken und Männern mit getunten Autos, europäisches Denken ist keineswegs eine Seltenheit und viele junge Litauer scheinen sehr weltoffen und oft auch bereit, ihr Studium oder einen Teil davon im Ausland zu absolvieren.

Nachtleben: Da wir im Stadtzentrum wohnen, sind die meisten Bars und Klubs nicht weiter als eine halbe Stunde von uns entfernt. In den vergangenen 7 Wochen waren wir an den verschiedensten Plätzen und Orten und längst haben wir nicht alles gesehen. Das besagt, dass Vilnius, obwohl es mit seinen ca. 500.000 Einwohner gerade ein Drittel von Wien ausmacht, Einiges zu bieten hat. Da ich keine Einheimische bin und wirklich nicht einmal die Hälfte der Lokalitäten besucht habe, fällt es mir schwer eine Empfehlung auszusprechen. In jedem Fall aber sollte man sich „Vilnius in my pocket“ und die „City Spy Map“ besorgen, dann wird man bestimmt keine fortgehtechnischen Probleme in Vilnius haben. Die Preise hier sind deutlich niedriger als in den anderen baltischen Hauptstädten, ein Bier zum Beispiel bekommt man im Durchschnitt um 6 Litas, also nicht einmal 2 Euro.


Ausflüge: Während meines Aufenthalt besichtigte ich drei Tage lang die lettische Hauptstadt Riga, Klaipeda im Westen Litauens sowie die Bernsteinküste, genauer gesagt die Kurische Nehrung mit den Dünen von Nida. Außerdem unternahmen wir je einen Tagesausflug in die zweitgrößte litauische Stadt Kaunas und nach Trakai südlich von Vilnius,wo sich ein .historisch interessantes Wasserschloss befindet.

Fazit: Wie schon in meiner Einleitung erwähnt, haben sich meine Erwartungen in Bezug auf die Stadt und das Leben hier mehr als übertroffen. Die Arbeit selbst entsprach nicht ganz dem, was ich mir zuvor vorgestellt habe, aber auch mit limitierten Möglichkeiten und Misserfolgen arrangiert man sich mit der Zeit. Ich kann jedenfalls behaupten, eine Menge gelernt zu haben, bestimmt mehr als es mir zuhause an der Universität möglich gewesen wäre, selbst wenn ich 40 Wochenstunden absolvieren würde. Daher kann ich es jedem nur empfehlen, einen Auslandsaufenthalt mit EVS zu wagen, da es eine einzigartige Chance ist, ein Land /eine Stadt zumindest bis zu einem gewissen Grad von innen kennenzulernen. Ich persönlich würde diese Erfahrung bestimmt noch einmal wiederholen, auch in Form eines „Long Term“ EVS.

Carina Reichard (21)

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